News Interview: Donja Nasseri und Ezgi Erol 19. August 2021
Die beiden Artists in Residence Donja Nasseri und Ezgi Erol im Gespräch über ihre künstlerische Arbeit an der Schnittstelle von bildender Kunst, Artistic Research und Archivarbeit in Lustenau. Während ihres sechswöchigen Aufenthaltes forschen sie mit verschiedenen künstlerischen Strategien zum Thema „postmigrantisch“ und tauchen hierfür in die Geschichte(n) und Erinnerungen der (post)migrantischen Communities ein. Im Interview schildern sie ihre künstlerische Arbeitsweise und ihren Zugang zum Material.
DOCK 20: Mit welchen Medien arbeitet ihr für gewöhnlich?
Ezgi Erol: Video, Installation, Text und Fotografie stehen in meiner künstlerischen Produktion im Zentrum. Und deren Kombination mit Recherche, Theorie, wissenschaftlichen Erkenntnissen und Geschichte…
Donja Nasseri: Normalerweise mit Gedanken und Imaginationen, die sich aus beobachteten und erlebten Situationen ergeben. Diese werden dann fragmentarisch übereinander geschichtet, mit Satzbausteinen ergänzt oder entzerrt, als Ganzes reproduziert und auf ein Druckmedium übertragen. Im Grunde haben alle meine Arbeiten die Auseinandersetzung mit Fotografie und Collage als Ursprung. Häufig verwende ich in der Installation zusätzlich dann auch Sound-Collagen.
D20: Und welche inhaltlichen und konzeptuellen Themen beschäftigen euch in eurer Kunst und eurem wissenschaftlichen Arbeiten?
EE: Historische Ereignisse, gesellschaftliche Traumata, der Umgang mit persönlichen Archiven, Erinnerung, Gedächtnis, Krieg sind meine Schwerpunkte. In der Videoproduktion entwickle ich basierend auf historischen und/oder technischen Fakten fiktive Erzählungen und Gedichten, die sich mit Feminismus und Intersektionalität auseinandersetzen.
Das Wissen, das ich durch meine Forschung gewonnen habe, fließt dann nicht nur in die künstlerische, sondern auch in die kuratorische oder redaktionelle Arbeit ein. Sicherlich beschäftige ich mich mit Themen, die häufig kaum sichtbar sind. Ich suche nach einem Weg, vom Zeigen zum Sichtbarmachen zu kommen. Dieser Prozess hilft mir sehr bei meiner künstlerischen Produktion für die Auseinandersetzung damit, was im Kunstbereich möglich ist und was nicht.
DN: Ich setze mich vermehrt mit Interdisziplinarität auseinander, wie z.B. mit der Ägyptologie, Psychologie oder der Archäologie. In meinen Arbeiten gibt es feministische Elemente, die sich gegen stereotype Rollenzuschreibungen wehren. Ich arbeite an einer Pluralität von Lösungsstrategien, in denen verschiedene Weltbilder toleriert werden, um in ihrer Pluralität handlungsfähig zu bleiben und um mit diesen Perspektiven die Zuschreibungen der Vergangenheit aufzubrechen.
D20: Was bedeutet für euch ‚postmigrantisch'?
DN: Es geht heute vielmehr um Wandel, Progress, Tradition und den dauerhaften Kampf darum, diese Prozesse mit Selbstverständlichkeit und Akzeptanz zu leben - mit allen wilden, aufgebrachten und müden Emotionen.
EE: Ich beziehe mich auf Studien und Perspektiven von migrantischen Selbstorganisationen im deutschsprachigen Raum, die schon lange zu „Postmigration“ Wissen produzieren. In ihrem Sinne wird Migration als gesellschaftsverändernde Kraft verstanden. Das Feld der Migration soll radikal neu gedacht und die Migrationsgeschichte aus der Perspektive jener erzählt werden, die die Migration direkt erlebt haben, wie Gastarbeiter:innen. Oder eben aus Perspektive der zweiten oder dritten Generation, die zwar selber keine Migration erlebt haben, jedoch ständig von der Mehrheitsgesellschaft als Migrant:innen behandelt und markiert werden. Diese Erfahrung wird als migrantisch situiertes Wissen bezeichnet, eine Form des Wissens, das sich aus der Erfahrung der Diskriminierung und Stigmatisierung nährt und die Gesellschaft mitprägt. In diesem Sinne geht es in postmigrantischen Debatten um die Auseinandersetzung mit Gegenstrategien und Gegennarrativen zu Diskriminierung und Stigmatisierung und der Anerkennung dieser Form des Wissens. Darüber hinaus geht es auch darum, dass Migrationsprozesse zu sozialen, kulturellen und ökonomischen Transformationen sowie Identitätkonstruktionsprozessen beitragen und damit unmittelbarer Teil der kulturellen und sozialen Geschichte einer Gesellschaft sind.
D20: Welche Rolle spielen Archive und Sammlungen in eurer künstlerischen Praxis?
DN: Die Arbeit mit einem Archiv ist ein Kümmern und Regenerieren von Narration, die sich unbedingt mit unserer Gegenwart verschmelzen sollte. Anhand von Archiven oder Sammlungen, die immer für die Öffentlichkeit zugänglich sein sollten, wird die Erinnerung Anderer fassbar. Diese Sichtbarkeit ist ein Abenteuer, ein Märchen bzw. eine Fiktion, die ich in meine Werke einarbeite.
EE: Für mich Sammlungen bisher kaum bis gar nicht. Privatarchive, die von Protoganist:innen oft auch nicht als Archiv bezeichnet werden, wie zum Beispiel ein Familienalbum, sind für mich dagegen wichtige Anhaltspunkte bei meiner Arbeit um Erinnerungen zu rekonstruieren. So kann ich sie in der sozialen, politischen und ökonomischen Gegenwart verorten. Das Ziel wäre, eine aktive Auseinandersetzung mit Gedächtnisdiskursen hervorzurufen.
D20: Und was bedeutet es für euch, eine Arbeit 'vor Ort' anzufertigen?
DN: Neue Reize aufzusaugen, diese über mehrere Nächte zu einer Idee zu transformieren und dann in Kunst verwandeln!
EE: Vorab muss ich den Ort definieren. In diesem Fall einen Ort, an dem ich noch nicht gewesen bin und an dem ich kaum Menschen kenne. Trotzdem versuche ich, dass die Arbeit nicht nur ein Resultat meiner eigenen Beobachtungen und Recherche sein wird, sondern auch durch die Interaktion mit Akteur:innen der Geschichte entsteht. Für mich ist es besonders spannend, dass ich den Ort gar nicht kenne. Trotzdem komme ich mit einem klaren und überzeugten Konzept und denke ich weiß, was ich hier bearbeiten werde. Obwohl ich in Wien lebe, bin ich überrascht, wie vielfältig und heterogen die Migrationsgeschichte hier in Lustenau ist. Die Zeit hier ist außerdem auch ein Raum für das Lernen und das gezielte Verlernen. Ich bin selbst sehr gespannt ob ich überhaupt eine Arbeit anfertigen werde. Eine umfassende Arbeit ist ja in einem kurzen Monat schwer möglich.
D20: Inwiefern ist für euch Kunst bzw. ein Kunstwerk Teil einer postmigrantischen Erzählung?
EE: Schwierige Frage! Wenn es um Erzählung geht, dann impliziert das etwas didaktisches, was besonders in der bildende Kunst manchmal problematisch ist. Künstlerischen Arbeiten, die sich mit den Geschichten der Migrant:innen, sowie der Gastarbeiter:innen auseinandersetzen und die sich als ästhetische Erfahrung situieren, finden bis heute kaum Erwähnung in der westeuropäischen Kunstgeschichte. Aber nur, wenn darüber gesprochen und darüber geschrieben wird, dann kann Kunst oder ein Kunstwerk als Teil einer postmigratischen Erzählung verstanden werden.